Verena Reichel - Botengang zwischen den Welten
Dankrede zum Johann-Heinrich-Voß-Preis

In ihrer Autobiographie „Lost in Translation“ berichtet Eva Hoffman, die 1959 als Dreizehnjährige von Krakau nach Amerika ausgewandert ist, von ihrem Versuch, sich der Sprache und Kultur der neuen Welt anzupassen, ohne ihre eigenen Wurzeln zu verlieren. Im Studium verliebt sie sich in einen Texaner, der blond und blauäugig, liebenswürdig und klug ist, an dem einfach alles stimmt.

„Sollst du ihn heiraten? Die Frage stellt sich mir auf englisch. Ja. Sollst du ihn heiraten? Kommt das Echo der Frage auf polnisch. Nein.“

Ohne meine eigene Geschichte im mindesten mit Eva Hoffmans Schicksal vergleichen zu wollen, kann ich diese Erfahrung sofort nachvollziehen. Sie ist für mich ein schlagendes Beispiel dafür, dass die erste Sprache, die Muttersprache, die Sprache der ursprünglichen, unzensierten Gefühle ist.
Meine erste Sprache ist das Schwedische. Die frühe Kindheit verbrachte ich in Stockholm. Wir lebten in der weitläufigen Wohnung einer Tante, die meine Mutter, meine drei Geschwister und mich bei sich aufgenommen hatte. Als schwedische Staatsbürgerin hatte meine Mutter die Möglichkeit gehabt, kurz vor Kriegsende mit Bernadottes weißen Bussen nach Schweden auszureisen.
Ich war ein Nachkömmling, weit jünger als meine Schwester und meine beiden Brüder, und die ersten Worte, die ich lernte, waren schwedisch, die Sprache meiner Mutter. Noch immer empfinde ich manche Ausdrücke aus dem Bereich der sinnlichen Wahrnehmung, des Tastens, Schmeckens und Riechens auf schwedisch als anschaulicher und sprechender als auf deutsch. Das Begreifen im wörtlichen Sinn ist noch eins mit dem Begriff. Kein Preiselbeerkompott ist so süß wie „lingonsylt“, kein Brei so klebrig wie „gröt“, keine Haut so weich wie „mjuk hud“ und keine Mutter so liebevoll wie „mor“. Ich selbst bin „Lillan“, die Kleine.

Als mein Vater uns nach Deutschland zurückholt, ist er für mich ein Fremder. Ich verstehe seine Sprache nicht, und ich begreife nicht, was mit uns geschieht. Ich verfolge ihn mit meiner Eifersucht, diesen Mann, der mir meine Mutter wegnimmt und dem sie erlaubt, über uns zu bestimmen. Ich schlage vor, dass er meine Tante heiraten soll, aber es fruchtet alles nichts. Wir ziehen in einen kleinen Ort in Süddeutschland und kommen in einem ehemaligen Kurhaus unter, in dem wir ein paar Zimmer an einem langen, düsteren Korridor bewohnen. Gegessen wird gemeinsam in einem Speisesaal, und von da an führen wir mehr oder weniger ein Leben in der Öffentlichkeit. Ich merke, dass ich mit anderen Augen betrachtet werde. Von uns Kindern wird verlangt, dass wir uns vorbildlich benehmen. Etwas Lastendes senkt sich herab. Ich werde nun nicht mehr Lillan gerufen, sondern heiße Verena.
Mein Vater war ein Mann des Wortes, und mit seiner Sprache ist eine Neuordnung meiner Welt verbunden. Unser Familiengefüge verändert sich.  Mit der Vatersprache beginnt die Abstraktion, wird mir die Sprache als Sprache bewusst. Das Begreifen trennt sich vom Begriff. Lars Gustafsson, der immer wieder zur sinnlichen Sprach-Erfahrung der Kindheit zurückkehrt, schreibt: „Landschaften gibt es beliebig viele, aber am Ende sind es stets Landschaften (auch im historischen Sinn), mit denen jeder Mensch sein inneres System von Erkenntnissen organisiert. Die Landschaft der Eltern und der Kindheit liefert die Koordinaten der Sprache. (Irgendein Brot liefert den ursprünglichen Sinn der Vokabel ‚Brot’).“
Durch die Landschaft meiner Kindheit geht ein Riss. Die täglich sich ausbreitende Landkarte der Wörter, mit ihren Grenzmarkierungen, grünen Inseln, Bergen und Flüssen, dieser ganze Kontinent bricht auseinander. Das Kind lernt, dass es andere Sprachsysteme gibt, andere Möglichkeiten, seine Erfahrungen in Wortmuster zu ordnen. Es lernt auch, dass man Mitteilungen in einer anderen Sprache verschlüsseln kann. Die Sprache hat ihre Unschuld verloren.
Das Deutsche habe ich mir als etwas Fremdes angeeignet, zugleich mit dem Buchstabieren, dem Lesen, den ersten Schreibübungen im Schulheft. Mit dem Schwedischen habe ich nie kämpfen müssen, als auferlegter Disziplin in einer Schule. Es sprach zu mir aus Märchen und Briefen, und das Buchstabieren ergab sich von selbst mit der Zeit. Mein Vater, nicht zuletzt ein passionierter Lehrer, der die Sprache liebte und mit ihren Möglichkeiten spielte, hat mir später seine Sprache durch seine Lieblingsschriftsteller nahegebracht, aus denen er uns Sonntag für Sonntag vorlas, vor allen anderen die Werke von Thomas Mann. Ich merkte es immer, wenn er eine Stelle unterschlug, und las sie dann heimlich nach. So begann meine Liebesgeschichte mit der deutschen Sprache.

Schweden wird zum Kindheitsparadies, in das ich in der Phantasie zurückkehren kann, wann immer ich will. In der Realität fahre ich fast jedes Jahr mit meinen Eltern in den Ferien dort hin, wir verbringen den Sommer an einem See in Småland. Mein Vater bringt mir das Schwimmen bei, und dann das Rudern. Diese Ferien verschmelzen in der Erinnerung zu einem einzigen, leuchtenden Sommer. Mit der Zeit werden diese Reisen seltener, ich fahre ohne Eltern in andere Himmelsrichtungen. Aber das Kindheitsland ist immer gegenwärtig als der verborgene Winkel, in den ich mich zurückziehen kann, das Besondere, das mich schützt.
Ich beginne, die schwedische Literatur zu lesen, die Romane Selma Lagerlöfs, die Gedichte Edith Södergrans, der Bahnbrecherin der modernen schwedischsprachigen Lyrik. Durch das Lesen vermehrt sich mein Wortschatz von selbst, und die in der frühen Kindheit gelernten Wörter wachsen zusammen und breiten sich aus wie ein unterirdisches Geflecht. Aber ich benutze die Sprache nicht mehr aktiv, auch mit meiner Mutter spreche ich kaum noch schwedisch. Nach meinem Berufsziel gefragt, sage ich nie: Übersetzerin. Schwedisch und Deutsch sind für mich zwei Kontinente, Muttersprache und Vaterland.

Ich mache eine Ausbildung als Journalistin und arbeite für eine Tageszeitung. Der intensive Umgang mit der deutschen Sprache drängt das Schwedische völlig zurück. Bis mir der Lektor des Hanser Verlags, Michael Krüger, für den ich schwedische Romane begutachte, ein Buch in die Hand drückt, dessen Stil und Ton mich sofort begeistern. Es heißt „Herr Gustafsson själv“ – „Herr Gustafsson persönlich“. Ich wage mich an die Übersetzung und spüre bei dieser Arbeit, wie etwas in mir zur Ruhe kommt. Zwei Widersacher hören auf, in meinem Kopf zu streiten, zwei Bilder schieben sich übereinander und werden eins, ich bin total konzentriert und ganz bei mir.
Damals habe ich begriffen, dass es meine Aufgabe ist, ein go-between zu sein. Der Botengang zwischen diesen zwei Welten, diesen zwei Sprachen ist meine Sache, ohne Wenn und Aber. Wie die Botschaft im einzelnen zu vermitteln ist, musste erlernt und erprobt werden. Aber dass ich zu jenen go-betweens gehöre, mit all meinen Fähigkeiten, mit allem Ach und Weh, mit Haut und Haaren, daran gab es keinen Zweifel, und dabei ist es bis heute geblieben. Und ich hatte das große Glück, Lars Gustafssons Werk übersetzend begleiten zu dürfen.

Das Übersetzen ist für mich der Versuch, diese Kontinente, die einmal auseinanderbrachen, wieder zusammenzufügen. Also eigentlich ein unmögliches Unterfangen, eine Sisyphusarbeit. Ziemlich früh wurde etwas beschädigt im Verhältnis des Kindes zu seiner ursprünglichen Sprache. Und nun schicke ich täglich meine Brigaden aus, um diesen Schaden zu reparieren. Oder gibt es noch andere Anreize als nur die Erinnerung aufzusuchen an einen frühen Verlust? Beim Übersetzen gerate ich oft in einen „Zustand zwischen den Zuständen“, in dem Echos hin- und herfliegen, und ich denke, das ist der Zustand, in dem ich heimisch bin, zwischen zwei Ländern, zwei Sprachen, zwei Arten zu denken und zu fühlen. Jede Wendung, die es gelingt zu übersetzen, ist ein Sieg über die Trennung. Das Kind und die Erwachsene arbeiten dabei einträchtig zusammen.

Ich danke der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung, dass sie mich bei dieser niemals endenden Arbeit unterstützt und dass sie mit dem Schwedischen eine kleine Sprache auszeichnet, in der die Übersetzer oft auch zugleich die Vermittler sind. 
Verena Reichel